Schloss Krokowa in Kaschubien
Ein philosophischer Spaziergang in der Eulenschlucht
Text von Annika Kiehn, September 2019 Fotos von Jan Rusek
Auf die ulkigste Art und Weise bemüht sich der Mensch wieder, mehr Grün in sein Natur-entrücktes Leben zu integrieren: Was einst ein gewöhnlicher Waldspaziergang war, heißt nun also „Waldbaden“. Mit Hochbeeten ist es noch einfacher geworden, sich als Gärtner*in zu betätigen – wir müssen uns nicht einmal mehr bücken. Die Kleingartenvereine dürfen sich über neue, jüngere und hoch motivierte Mitglieder freuen. Das ist gut und wichtig, und endlich haben wir mal einen Trend erschaffen, der uns essenziell nützt. Mehr in der Natur zu sein, kickt unser Immunsystem, es beschwingt unser Herz, und der Blick ins Grüne entspannt uns, steigert unsere Kreativität. Kein Wunder also, dass das Prinzip Coworking vor allem deshalb auf dem Land seinen Siegeszug fährt.
Nach dem Motto: A walk a day keeps the doctor away – jeden Tag ein bisschen im Wald zu spazieren – hielten schon die alten Philosophen für eine gute Idee. So auch Johann Gottlieb Fichte. Als Hauslehrer war der deutsch Philosoph für die Adelsfamilie derer von Krockow am gleichnamigen Schloss tätig, das in der Polnischen Region Kashubien als Schloss Krokowa bekannt ist.
An manchen Tagen reduziere ich meine Geschwindigkeit und blicke bewusst ins Grüne
Jeden Tag wandelte der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte müßig durch die sogenannte Eulenschlucht. Ein verschlungener, romantisch anmutender Waldweg, mit der Absicht, seine Gedanken zu sortieren. Bis heute pflegen die Einheimischen seine Legende. Mit dem kleinen Büchlein „So sein wie Fichte“ widmet sich der polnische Autor, Philosoph und Lebenscoach Marcin Teodor Fabiański dem Geist Fichtes. Angelehnt an dessen Habitus des müßigen Gehens, beschreibt Fabiański, dass „ein ausgiebiger Spaziergang von einer Stunde die Quelle der Regenerierung ist. Studien belegen, dass wir danach bis zu 20 Prozent konzentrierter arbeiten.“
Das merke ich, seit ich wieder regelmäßig joggen gehe. Ich habe das Glück, dass ich nur zwei Minuten brauche und schon bin ich im Wald. Ich höre keine Musik mehr, konzentriere mich nur auf mich und meinen Atem, das Zwitschern der Vögel beschallt mich dabei wie Radiomusik beim Kochen. Diese Art der Ruhe rückt mich wieder in einen Modus der Ausgeglichenheit, der nach stundenlanger Arbeit am Rechner in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es rettet mich oft vor der Mittagsmüdigkeit. An manchen Tagen reduziere ich meine Geschwindigkeit und blicke bewusst ins Grüne. Ich genieße das Alleinsein, die völlige Unerreichbarkeit für meine Mitmenschen.
Im Wald zu sein, hat für mich stets etwas Reinigendes: Alles okay, wie es ist?, frage ich mich dann. Und falls nicht, horche ich umso mehr in mich hinein und versuche, den unguten Gefühlen auf den Grund zu gehen. Diese Art der Reflexion hält mich im Alltag im wahrsten Sinne des Wortes am Laufen. Ich bin hinterfrage mich dann und wann gern selbst, manchmal leider öfter als es nötig wäre. Für mich macht diese innere Entwicklung einen wesentlichen Teil meiner Lebensfreude aus, sie hält mich wach und schützt mich vor Routine, die in eine gefährliche Selbstgefälligkeit entarten könnte.
Meine Leidenschaft für Gutshäuser hat mich unweigerlich zu der Wirkungskraft von Bäumen herangeführt. Aus diesem Grund habe ich für diesen Blog die Metaebene „Nature and Parks“ erdacht. Je öfter ich durch einen Gutspark spaziere, desto mehr verstehe ich die Intension dieser oder jener Pflanzungen, weiß inzwischen, was es mit „Sichtachsen“ auf sich hat und ihre Bedeutsamkeit für eine Kulturlandschaft. Sie entspringen wohl überlebten Gedanken, die auf Ausgewogenheit und Wohlbefinden ausgelegt sind, sich aber für den Ottonormalverbraucher auf den ersten Blick kaum erschließen.
Je mehr wir urteilen, desto mehr beschäftigt dies unseren Geist
Doch wäre es nicht zu einfach, wenn Bäume und der Wald allein ausreichten, um für unser Wohlbefinden sorgen. Es liegt auch an uns, in welchem Maß wir uns gedanklichem Stress aussetzen. Nun wird sich mancher denken: Na, wenn wir das so einfach kontrollieren könnten! Auch ich finde es bedauerlich, dass wir Gedanken nicht an und ausknipsen können wie das Licht in Räumen. Manchmal wäre das doch angenehm. Auch ich übe mich immer wieder aufs Neue darin, negative Gedanken abzustreifen. Fichte war der Ansicht, dass wir unser Hirn entlasten, indem wir uns darin üben, unsere Mitmenschen weniger zu verurteilen und uns im Allgemeinen mit Bewertungen zurückzuhalten. Die Erklärung leuchtet ein: Je mehr wir urteilen, desto mehr beschäftigt dies unseren Geist – selten im Guten. Sich freizumachen von wertenden Gedanken, heißt weniger Ballast, ergo: innerlich aufgeräumter zu sein.
Je mehr wir uns auf das bloße Sein und unser Tun konzentrieren, desto erreichen wir den Zustand der Ataraxie – das Ideal der Seelenruhe. Sie macht uns gegenüber Schicksalsschlägen und sorgt für einen ruhigen Herzschlag. Klingt logisch: Je weniger wir uns an der Unzulänglichkeit der anderen stören, desto friedlicher und positiver werden wir selbst. Wem nützt es, wenn wir uns ständig über andere aufregen und sie doch nicht ändern werden?
Ich bemühe mich ständig, gelassener zu werden und mir nicht jeden Kommentar zu Herzen zu nehmen. Leider nehmen wir Menschen uns aus der Interaktion mit anderen wahr und so ist es schwer, sich der Wertung oder der vermeintlichen Wertung, die wir oft herauszuhören meinen, zu entziehen. Wenn ich mich doch nur öfter mal zurückhalten könnte, Kommentare abzugeben. Ich beneide diejenigen, die um ihre eigene Fehlbarkeit wissen und einfach drauf chillen. Was uns nämlich dazu verleitet, uns über andere aufzuregen, ist die bloße Angst, selbst nicht zu genügen. Wenn wir diesen Punkt erst einmal überwunden haben, werden wir unerschütterlicher und wohlwollender. Eine ziemlich vielversprechende Aussicht, nicht wahr?
In seinem Buch „So sein wie Fichte“ bietet Marcin Teodor Fabiański philosophische Übungen an, während des Spaziergangs das eigene Sein auf Basis von Fichtes Erkenntnissen konzentriert, nahezu religiös zu betrachten. Ob Waldweg, Landweg oder beim Gang durch den Stadtpark – diese Übungen sind einfach umzusetzen und im Folgenden habe ich meine Top Drei zusammengefasst:
Kontemplation des Älterwerdens – gelassen mit der Zeit gehen
Suche nach einem Baum und lass Deine Augen wandern zwischen den beständigen Zweigen und den jungen Trieben. Es scheint, als ob Alt und Jung keinen Gegensatz darstellen. Frage Dich selbst: „Ist das Leben wirklich das Gegenteil vom Tod oder, wie es der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel einst beschrieb: „Der Tod scheint nur eine von vielen Aufgaben, die es im Leben zu erfüllen gilt.“ Wenn Du also den Baum betrachtest, glaubst Du, dass Du es schaffen kannst, das Älterwerden mit derselben Gelassenheit anzugehen wie der Baum, ohne Frust und Traurigkeit? Wir erreichen einen Zustand der Unerschütterlichkeit, wenn wir uns mit dem Gedanken versöhnen, dass wir uns verändern. Und mal ehrlich, auch wenn wir die jungen Menschen dann und wann um ihre straffe Haut beneiden, wollen wir wirklich mit ihnen tauschen? Sind unsere gewonnenen Erfahrungen und immer neuen Erkenntnisse über das Leben nicht unsere jungen Triebe, als Kontrast zu dem älter werdenden Körper? Und während Du die Antwort darauf suchst, erfreue Dich an der Schönheit des Waldes.
Es lohnt sich immer, genauer hinzusehen
Kontemplation über den Raum – ist immer alles so, wie es scheint?
Je weiter Du in den Wald eintauchst, in dem Du Dich gerade befindest, desto leichter wird es Dir fallen, die Außenwelt hinter Dich zu lassen. Diese Art der Übung zielt auf unsere Wahrnehmung ab: Ist es wirklich immer so, wie es auf den ersten Blick scheint? Oder wollen wir nur sehen, was wir erwarten? Wenn Du zum Beispiel einen kleinen Teich entdeckst oder eine kleine Moorebene, wirkt die Oberfläche in sich ruhend und glatt. Doch bei näherer Betrachtung kann es sein, dass leichte Wellen darauf tanzen. Zugegeben, diese Übung verlangt einem ein bisschen mehr Spiritualität ab – auch ich neige dazu, sie als etwas banal abzutun, vermutlich, weil sie so leicht ist. Doch eigentlich ist die Aussage deutlich: Es lohnt sich immer, genauer hinzusehen oder mit einem Gedanken abzuwarten, bevor man ihn äußert. Eine goldene Regel des Streitens besagt: Zähle im Kopf bis zehn, bevor Du antwortest. Wie oft sind die Dinge anders, als gedacht?!
Kontemplation über die Absicht – denke wie eine Erdkröte
Ob eine Erdkröte am Morgens darüber nachdenkt, wie viele Fliegen sie im Laufe des Tages fangen wird? Vermutlich nicht. Und wenn sie es täte, würde sie vor Erschöpfung umfallen. Sie hat es gut: Sie hinterfragt nicht ihre Fähigkeit, Fliegen zu fangen. Sie fragt sich auch nicht, ob und wie sie mehr Fliegen fangen könnte – was clever ist: Sie würde am Ende mehr denken als fressen und vermutlich sterben. Klingt logisch, oder? Wie oft halten wir uns selbst vom Tun ab, indem wir eine Sache, ein Projekt zerdenken? Solange, bis wir es am Ende gar nicht machen. Wenn ein gutes Gefühl da ist, sollten wir dem nachgehen, ohne bis zum Schluss abzuwägen. Es ist sowieso hinfällig, den wie schon in Übung zwei erwähnt: Die Dinge entwickeln sich oft anders als gedacht. Wenn es sich in dem Moment okay anfühlt, einer Sache nachzugehen, ist meist auch was dran. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir wie eine Erdkröte denken – nämlich nicht so viel Überflüssiges und intuitiver.
Besuchen Sie Schloss Krokowa in der Kaschubei
Schloss Krokowa - erbaut von der Familie von Krockow. Heute ist es ein Museum, ein Hotel und eine Touristenattraktion in Pommern, Nordpolen. Es ist von einem Park umgeben, der einst der Stolz von Luiza von Krockow war und heute eine Stiftung für Philosophie beherbergt.
Zamek w Krokowej
ul. Zamkowa 1, 84-110 Krokowa (woj. pomorskie) Tel. +48 58 77 42 111 Website Schloss Krokowa
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