Wurzeln schlagen auf Gut Jackowo

Pferde, nachhaltiger Tourismus und gesunde Produkte

Ein Mutter-Tochter-Gespann findet seine Bestimmung auf einer verlassenen Gutsanlage

Text von Annika Kiehn, Mai 2021

Kaum erhielt Anna Mazuś mit 18 Jahren ihren Ausweis, verließ sie den Bauernhof ihrer Eltern in Polen, um die Welt kennenzulernen. Als sie gerade dabei war, nach Kanada auszuwandern, entschied das Schicksal anders: Stattdessen sollte sie Landwirtin und Inhaberin einer Gutsanlage in ihrem Heimatland werden. Sie und ihre Tochter Nicole haben in dem kleinen polnischen Dorf Jackowo direkt an der Ostsee nicht nur ein neues Zuhause gefunden, sondern auch ein traumhaftes Areal, um eine Landwirtschaft und sanften Tourismus zu betreiben.

 

Eine Oase der Ruhe für Gäste und Pferde

Als ich an einem milden Frühjahresabend 2019 auf Folwark Jackowo ankomme, ist Anna Mazuś leicht in Panik. Sie lächelt mich nervös an, entschuldigt sich, dass sie mich gerade nicht willkommen heißen kann. Ihre Aufmerksamkeit gilt zwei Pferden, die sich ihrer Einschätzung nach in diesem Moment besser verstehen, als sie es sollten. Mit lauten Rufen und hektischen Armbewegungen versucht sie einen jungen Hengst und eine junge Stute auseinanderzutreiben, die unbekümmert ihren ersten Liebeserfahrungen nachgehen wollen. „Nein!“, ruft Anna auf Polnisch. Sie guckt mich mit einem hilflosen, aber freundlichem Blick an.  Eigentlich möchte sie nur darüber lachen, aber die Sache ist ernst. „Er ist noch zu jung, um sich zu vermehren, er hat noch keine Papiere! Wenn da ein Fohlen rauskäme, wäre es nichts wert.“ Der Hengst bleibt unbeeindruckt, bis sich Anna ihm mit hektischen Bewegungen nähert. Schließlich lässt er ab, und sogleich ist Annas Tochter Nicole zur Stelle, um den jungen Übermut in den Stall zu bringen.

„Wir züchten ja Pferde“, sagt Anna, „aber manchmal müssen wir aufpassen, dass sich die Dinge hier nicht verselbstständigen.“ Sie wirkt sichtlich erleichtert und führt mich, nach einer innigen Umarmung, zum Gemeinschaftsraum, wo wir in Ruhe reden können.

Während wir dort hingehen, freue ich mich leise in mich hinein – ich liebe es, wenn Begegnungen ungekünstelt und authentisch sind, so wie diese eben. Genau das ist das Konzept auf Folwark Jackowo, einer ehemaligen Gutsanlage an der südlichsten Ostseeküste Polens, circa 1,5 Stunden nordwestlich von Danzig. Die Anlage gibt alles her, was Städter lieben: sinnliche Natur, Ruhe, den Charme des Entrückten.

Doch am Ende sind es doch vor allem die (meist unerwarteten) Begegnungen, an die wir uns gern erinnern. 

Wer nach Jackowo kommt, wird unmittelbar Teil des Ganzen, egal und ganz gleich, wie absurd diese Szene auf der Koppel eben war, sie erfüllt genau den Zweck, den Anna Mazuś und ihre Tochter sich für ihre Gäste überlegt haben: Mit sanftem Tourismus auf Ihrem Gutshof wollen die beiden ihre Besucher an ihrem alltäglichen Landleben teilhaben lassen. Für Nicole, die sich später zu uns gesellt, sei es eine geradezu natürliche Entscheidung gewesen, wie sie mir sagt: „Ich möchte unsere Gäste kennenlernen, hören, was sie übers Leben denken, mich mit ihnen austauschen. Ich bin stolz darauf, dass von unseren Stammgästen viele inzwischen so etwas wie Freunde geworden sind.“


Anna and Nicole sind umsorgende Gastgeberinnen
Dieses Konzept erfordert eine gewisse Aufgeschlossenheit und mag nicht unbedingt für diejenigen geeignet sein, die einfach nur ihre Auszeit vom Alltag – und gänzlich von Menschen – haben wollen. Doch am Ende sind es doch vor allem die (meist unerwarteten) Begegnungen, an die wir uns gern erinnern.

Meine erste Sprachreise nach England prägte mich für immer. Ich war in einer Gastfamilie untergebracht und die Vibes stimmten vom ersten Tag an. Plötzlich hatte ich temporär zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester, und ich erinnere mich bis heute gern an die vielen Momente, in denen wir zusammen irgendeinen Kram ausgeheckt haben. Ich war einfach Teil der Familie, kriegte mit, wenn deftige Streitereien zwischen Eltern und Kindern ausgetragen wurden, wenn Mutter und Vater flirteten. Ich hatte das Gefühl, ein echtes Zuhause zu haben, und dass ich mich binnen so weniger Tage so heimisch bei Fremden fühlen konnte, wirkt bis heute nach. Wir halten noch immer Kontakt und ich kann es nicht erwarten, bis ich sie endlich wiedersehen werde. Ich schätze sie haben mich maßgeblich geformt für Formate wie Work & Travel oder WWOOFing, Arbeitsurlaub, der Alltag und Sightseeing miteinander verbindet. Aus meiner Sicht gibt es keine bessere Alternative, um ein Land und seine Leute in ihrem Wesen kennenzulernen.

einfach nur mal das bloße Dasein genießen, ein Buch lesen oder spazieren gehen

Als ich auf Gut Jackowo ankam, hatte ich bereits Recherche-intensive Tage hinter mir – demzufolge war ich mächtig müde, als Nicole mir mein Zimmer zeigte. Als sie mich in diesen gemütlichen Raum führte, entspannte ich mich sofort. Ich holte mir noch einen Tee aus dem Gemeinschaftsraum und auf dem Rückweg beglückte mich eine sinnliche Szenerie aus einem wunderschönen, majestätischem Gutshaus, einem großen Park, umsäumt von Holzzäunen, die die Pferde an Ort und Stelle halten. Und dann dieses magische Gewächshaus, das sie mittlerweile ebenfalls teilweise als Unterkunft ausgebaut haben. Und noch ein Bonus, der sich einem als Gast nicht sofort erschließt: Die Ostsee beginnt in nur wenigen Kilometern. Obwohl ich meine Laufschuhe dabei hatte, schaffte ich es einfach nicht rechtzeitig morgens aus dem Bett, stattdessen genoss ich die Ruhe. Ich war selig gefangen in meinem Zimmerchen wie in einem Kokon. Ich hatte überhaupt keine Lust auch nur irgendwo hinzugehen und das ist genau das, was Anna und Nicole im Sinn haben. Dass ihre Gäste einfach nur mal das bloße Dasein genießen, ein Buch lesen oder spazieren gehen. Und ihr Mobiltelefon dabei am besten ganz tief in ihrer Reisetasche vergraben.

Herzstück auf Gut Jackowo bildet natürlich das Gutshaus, das bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 der Familie Fließbach gehörte. Nach der Bodenreform und zu Zeiten des Sozialismus wurde die Anlage als Landwirtschaftsbetrieb weiter ausgebaut, was die vielen grobschlächtig anmutenden Betonplatten erklärt, die noch weitgehend das Gelände pflastern.

Durch Anna habe ich von dem schwedischen Journalist und Politiker Jens Orback erfahren, der die Fluchtgeschichte seiner deutschen Mutter Katja Orback in einem Buch festgehalten hat. Als Deutsche gehört Katja Orback zu der Familie Fließbach, die im zarten Alter von 13 Jahren gen Westen fliehen musste. Trotz ihres inzwischen sehr hohen Alters von über 90 Jahren, kommt sie regelmäßig nach Polen, um die alten Familiensitze zu besuchen. Diese Art der Zusammenkünfte einstiger und neuer Besitzer sind dabei oft hochemotional, wie Anna mir erzählt.

„Sie haben uns gesagt, dass sie uns sehr bewundern, dafür, wie wir die Gutsanlage restaurieren. Es gibt Gäste, die schauen nur aufs Gutshaus und sagen: Oh, das sieht aber noch schäbig aus!“ Anna lächelt mild. Sie weiß, dass ihr Zuhause auf Folwark Jackowo weit mehr zu bieten hat, als sich auf den ersten flüchtigen Blick erschließt.

Die wesentlichsten Veränderungen kamen ab 2011 zustande, als ihre Tochter Nicole, die nun Mitte 30 ist, den Sprung in die Tourismusbranche wagte. Mithilfe von EU-Fördermitteln baute sie erste Unterkünfte für Gäste aus. Ihre Geschäfte hält das Mutter-Tochter-Duo jedoch weitestgehend auseinander – Anna betätigt sich vornehmlich als Landwirtin und sorgt damit für den essenziellen Unterhalt der Anlage, während Nicole als Gastgeberin ihr Geld verdient.

Als ich am nächsten Tag nach rund zwölf Stunden Recherche wieder bei ihnen abends ankomme, verwöhnt mich Nicole mit selbst gekochter Suppe, vegetarischer Pasta, Salat und Bratapfel mit Vanilleeis. Es schmeckt himmlisch und fühlt sich an wie eine Umarmung nach diesem sehr anstrengenden Tag. Meine Reserven werden sofort wieder aufgeladen.

Ich weiß nicht genau, warum dieses Gutshaus so eine Kraft auf mich ausstrahlt. Aber ich verspüre ein starkes Bedürfnis danach, ihm seinen alten Glanz wiederzugeben. Dieser Drang schlägt alle Bedenken in den Wind. Tief in mir weiß ich, dass es meine Bestimmung ist, diese Gutsanlage zu neuem Leben zu erwecken und das nichts mit nachhaltigem Geschäftssinn zu tun.

Es schmeckt himmlisch und fühlt sich an wie eine Umarmung nach diesem Tag.

„Ich fühlte mich sofort zu Hause, es war verrückt”

Anna Mazuś, Folwark Jackowo
Unser South-Baltic-Manor-Projektfotograf Jan Rusek aus Polen hat mich auf dieser Tour begleitet. Während wir essen, werden wir von Nicoles zweijähriger Tochter unterhalten, die im Gemeinschaftsraum nach der Aufmerksamkeit der Anwesenden hascht. Auch da scheuen Anna und Nicole nicht, ihre Gäste zu involvieren. Essen wird auf Wunsch zubereitet, ich finde das genial. Wie oft war ich schon in Gutshäusern, die einen dann zum Essen woanders hinschicken müssen, weil sie selbst kein Restaurant haben. Das Prinzip Agrotourismus ist leider zumindest in Mecklenburg-Vorpommern nicht so gängig, wie in anderen Ländern. Jeden Morgen bereiten Nicole und ihre Mitarbeiterinnen ein famoses Frühstück zu, das keine Wünsche offen lässt. Ein Ritual, das aus Kindertagen herrührt, wie Anna mir verrät. „Ich liebe es auszuschlafen und so hat Nicole, als sie jünger war, immer Frühstück für uns gemacht, selbst als kleines Kind schon.“

„Ich fühlte mich sofort zu Hause, es war verrückt”

Als Anna mir von ihrem Werdegang erzählt, sprechen wir Deutsch. Anna hat mehrere Jahre in Deutschland gelebt, und arbeitete zuletzt als Übersetzerin für einen Großbauern. Mit einem Lächeln erinnert sie sich: „Es war dieser Job, der mich sozusagen als Landwirtin geschult hat. Während dieser Gespräche über Traktoren, Samen, Ernten habe ich so viel gelernt, von dem Wissen zehre ich heute noch.“ Seit Anfang der 90er Jahren führen sie und ihr Geschäftspartner Marek zusammen eine ökologische Landwirtschaft. Dabei habe sie nie wieder auf dem Land leben wollen, verrät sie mir. „Meine Eltern hatten einen Bauernhof und ich hasste es, dort zu leben. Alles, was ich wahrnahm, war harte Arbeit und es hat mich quasi angewidert.“ Als sie mit Anfang zwanzig mit Nicole schwanger wird, entscheidet sie sich, wieder nach Polen zurückzugehen. Im Alter von 25 Jahren bekommen sie und Marek die Chance, 1500 Hektar Ackerland zu erwerben, inklusive des Gutshauses.

Folwark Jackowo – Ein Ort für die Sinne

Auch wenn noch viele Tage ins Land gehen werden, bevor das Gutshaus wieder im alten Glanz erstrahlt, deutet ein neues Biberschwanzdach eine neue Ära des Aufbaus an. Anna plant, ein Boutique-Hotel darin zu eröffnen, und während sie von den Anfängen auf der Anlage erzählt, scheint es sie innerlich immer wieder positiv aufzurütteln, was sie bereits alles schon geschaffen haben mit ihrem Wagemut.

„Als ich das erste Mal das Haus und die Anlage sah, hatte ich Gänsehaut vor Schaudern, es war einfach alles so kaputt, unglaublich. Doch das Gutshaus strahlte eine Wärme aus, die ich sofort behaglich fand. Auf unerklärliche Weise fühlte ich mich sofort Zuhause, es war verrückt“, sagt sie. Sich dermaßen in ein altes Haus zu verlieben, ist zuweilen unerklärlich; die Bürde der hohen Kosten für die Restaurierung hingegen können so manchen Ottonormalverbraucher schnell an seine Grenzen bringen. „Ich weiß auch nicht 100-prozentig, was ich hier tue. Aber ich habe dieses starke Gefühl in mir, dass ich es tun muss und das schlägt alle Bedenken in die Flucht, die mich dazu verleiten könnten, all das hier zu verkaufen und mir einen Landsitz in Italien zu suchen. Das hat nichts mit unternehmerischem Denken zu tun.“

Nicole, die auf Gut Folwark Jackowo aufgewachsen ist, fühlt ähnlich. Obwohl sie ausgebildet ist als Tierärztin, hat sie keinerlei Ambitionen in diesem Berufszweig zu arbeiten. Stattdessen arbeitet sie mit ihrem Zuhause. „Ich wollte unbedingt zurückkommen und mit meiner Familie hier Wurzeln schlagen,“ sagt Nicole. Ihr eigens Wohlbefinden auf Jackowo war dabei ausschlaggebend für ihr Konzept: In sich ruhen und die Natur genießen. „Aus diesem Grund haben wir keinen Wellnessbereich, aus unserer Sicht braucht es so etwas nicht, um eine gute Zeit zu haben. Ich denke, viele unserer Gäste wissen das zu schätzen. Wie wäre es stattdessen mit einem Ausritt oder einem Tag am Strand? Oder man hängt einfach ab in den gemütlichen Hängestühlen um Park und genießt ein gutes Buch.“ Nur ab und an treffe sie auf Gäste, die anderes im Sinn hatten und sich dem Geist des Ortes nicht hingeben wollen. „Mein Angebot ist nicht jedermanns Sache. Es richtet sich an Outdoortypen, die gern mit anderen in Kontakt treten, die sich zu beschäftigen wissen und nicht unterhalten werden wollen. Es sind diese Leute, die eher sehen, was wir schon geschafft haben, als was noch nicht. Wann immer jemand etwas Negatives über Jackowo sagt, denke ich bei mir im Stillen: Für mich gibt es keinen besseren Ort als diesen.“


Folwark Jackowo – Ein Ort für die Sinne
Auf dem Gut Jackowo sind Sie genau richtig, wenn Sie nach einem Urlaub mit familiärem und naturverbundenen Vibe suchen. Alle Zimmer sind mit einer Dusche und eigenem WC ausgestattet, das Dorf Jackowo liegt unmittelbar am Wald und der Ostsee. Wir kochen gern für unsere Gäste mit allem, was unser biologisch betriebener Garten hergibt. Pferdefreunde dürfen sich auf einen besonderen Ausritt in der wunderbaren Küstenlandschaft Polens freuen.

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