Gutshäuser im Ostseeraum zu neuem Leben erwecken

Gutshaus Reise und Geschichten Blog

Prolog von Annika Kiehn, Sommer 2019

Was, wenn alle historischen Häuser verschwinden würden, einfach so? Mein Herz zieht sich zusammen, wann immer ein altes Haus abgerissen wird, gleich wie schäbig sein Zustand bereits war. Ein Stück Geschichte geht verloren, für immer und ebenso die Erinnerungen, die an den alten Gemäuern klebten. Eine Landschaft ohne Schlösser, Fachwerkhäuser, Scheunen und Gutshäuser, was für eine betrübliche Vorstellung!

Alte Häuser sind mir so lieb wie ein schrulliger Verwandter

Meine prägendsten Kindheitsjahre trugen sich auf dem Dorf beziehungsweise in der Kleinstadt zu. Da es während der DDR-Diktatur an Material für neue und moderne Bauprojekte mangelte, zählt der Anblick alter Katen und Siedlerhäuser zu meinem Alltag. Ich wuchs jedoch in einem Plattenbau auf, Typ WBS-70, demnach kann ich nicht erklären, woher mein gesteigertes Interesse an historischer Bausubstanz rührt. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern mich je explizit zur Seite genommen hätten, um zu sagen: „Schau mal, was für ein hübsches altes Haus! Und die schönen Gauben und oh, die große Eichentür!“

Alte Häuser rühren mich, und sind mir so lieb wie ein schrulliger Verwandter, den irgendwie jeder in seiner Familie hat. Die mit ihrem unnachahmlichen Charakter für dutzende Anekdoten sorgen.

Von ihnen lässt sich ablesen, wie das Leben damals war.

Alte Häuser können ebenso wunderbar Geschichten erzählen – oder besser gesagt: Wir an ihnen. Von ihnen lässt sich ablesen, wie das Leben damals war: wesentlich von harter Arbeit bestimmt und entbehrungsreicher, kann man nur sagen, sogar im Gutshaus. Sie sind der wunderschön anzusehende Zeitstrahl unserer gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Als die Menschen noch nicht den ganzen Tag lang in ein Mobiltelefon schauten und penibel das Toilettenpapier einteilten, draußen auf dem Plumpsklo. Gab es damals etwa Raumdufterfrischer? Kaffeemaschinen mit Kapseln? Küchenrolle?


Gutshäuser versinnbildlichen, mit wie viel Feinsinn der Mensch damals zu bauen verstand. Mauerwerke, bis zu einem Meter dick! Und wer würde heute noch Stuck an seinen Zimmerdecken anbringen? Geschwungene Türbeschläge, und selbst die Treppen sind ein optisches Highlight.

Das Haus findet den Menschen und nicht anders herum

Es heißt immer: Das Haus findet den Menschen und nicht anders herum. Ich habe oft beobachtet, dass das durchaus zutrifft. Ganz gleich, in welch noch so erbärmlichen Zustand wir ihm begegnen, ein Gutshaus versteht es, uns zu verzaubern und dabei sind ganz besondere Energien am Wirken.

Denn während man durch die großen Räume schlendert, fühlt es sich an, als sei ein Geist die Treppen hinaufgehuscht. Das Auge sucht nach Details, und im Kopf geistert die Frage herum: Wie mögen die Vorbesitzer gewesen sein? Wie viele Kinder sind hier aufgewachsen, welche Versprechen wurden wohl gemacht? In solchen Momenten wünschte ich, das Zeitreisen wäre längst erfunden und ich könnte den Gesprächen der damaligen Bewohner lauschen – hören, was sie dachten und fühlten in diesen herrschaftlichen Zeiten. Dann wiederum das Kontrastprogramm, als Flüchtlinge nach dem Krieg in den Häusern Obdach suchten und die Gutshäuser geradezu überfüllt waren.

Bis heute umgibt diese Häuser eine Aura des Geheimnisvollen. Ihre Schönheit ist zeitlos und doch überschwänglich. Und ist es nicht erstaunlich, welchen politischen Stürmen sie bereits getrotzt haben? Ihr Geheimnis liegt in ihrer einzigartigen Schönheit, die in neu gebauten Häusern nicht mehr zu finden sein wird. Die für eine Hingabe zum Handwerk steht, das auf Langlebigkeit setzt und erfreulicherweise erlebt es in diesen Tagen wieder zaghaft Aufschwung.

Bis heute umgibt diese Häuser eine Aura des Geheimnisvollen.

Als nostalgisch veranlagter Mensch berühren mich vergangene Zeiten auf sonderbare Weise. In meiner Freizeit bin ich in Secondhand-Läden und auf Flohmärkten zu finden, um nach Schätzen zu suchen, die bereits ein Leben hatten. Ich sehne mich manchmal nach der Ruhe, die aus unserem Leben zu verschwinden droht, diese geschäftige Ruhe, die eine Art Unaufgeregtheit in sich birgt. Ich übe mich darin, diesen Modus zu bewahren, was als freie Journalistin nicht ganz leicht ist – doch wenn sich ein paar freie Minuten ergeben, fahre ich am liebsten mit meinem Bruder gemächlich über die Dörfer. Ich habe etliche Häuser betreten, die inzwischen wieder einen Besitzer gefunden haben, meine persönlichen Streifzüge haben mir geholfen, mir diesen vertrauten Landstrich noch besser zu erschließen.

Nun darf ich mich glücklich schätzen, für dieses wunderbare EU-Interreg-Projekt „South Baltic Manors“ die Gutshauslandschaft rund um die Ostsee zu erkunden. Meine Reise ist sowas wie zurück in die Zukunft. Ich will den manorial Zeitgeist ergründen: Wie ergeht es der jetzigen Gutshaus-Generation rund um die Ostsee? Wie leben sie in ihren Häusern, wie nutzen sie diese? Welche Hindernisse müssen sie dabei überwinden, um die neue Ländlichkeit zu erfinden?

Old places, new life!

Es gab anfangs intern Diskussion darum, wie wir ein allgemein-gültiges Wort finden können, das all die Regionen vereint, die in diesem Projekt involviert sind. Ein guter Vorschlag kam aus Dänemark: Manorscape – zusammengesetzt aus Manor und Landscape. Er hat sich leider nicht durchgesetzt. Das Hinterland beschreibt aus unserer Sicht immer noch am besten, was gemeint ist: Es bezeichnet, formell ausgedrückt, Landstriche, die von einer mageren Infrastruktur geprägt sind, wo es in der Regel schwierig ist, sein Auskommen zu bestreiten. Wo nüscht ist, wie es im Volksmund heißt, oder wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Doch genau dort wird es seit einiger Zeit wieder richtig interessant. Stadtfrust und Stadtflucht haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen ihren Fokus auf das Landleben ausrichten. Denn wo wenig ist, lässt sich viel gestalten. Auf dem Land gibt es viel Platz und ein Freiheitsgefühl, das die Stadt bei allen Attraktionen nicht bieten kann. Und darum zieht es all jene an wie mich, die Lust haben, das Alte zu bewahren und dabei gleichzeitig etwas Neues auf die Beine zu stellen. Für die Luxus bedeutet, alte Balken abzuschleifen und ein Feuer am Ofen zu machen, Äpfel aus dem eigenen Garten zu ernten und den Rotmilan dabei zu beobachten, wie er seine Beute ausspäht. Die aus ökologischen Gründen wieder Plumpsklos bauen und ihr Brot selbst backen. Die davon träumen, dass wir uns wieder mit weniger begnügen und dabei einen neuen Reichtum schaffen, der uns alle zufriedener werden lässt: Mehr Zeit, mehr Muße, mehr Freude.

Gutshäuser spiegeln wieder, was uns im 21. Jahrhundert abhandengekommen scheint: Sinnhaftigkeit – in unserem Tun, in unserem Sein. Ein Gutshaus, heißt es, kommt einer Lebensaufgabe gleich. Man ist nie fertig, und genau das ist scheinbar gewollt. Sie werden zu Orten, an denen Menschen zusammenkommen und wo wundersame Ideen erwachsen, wie die jüngste Entwicklung zeigt: Co-Workspace auf dem Land. Dann wird ein ehemaliger Pferdestall plötzlich zum Austragungsort für einen Hackathon. Oder zum Vorbild für nachhaltige Baukonzepte. Doch nichts geht ohne harte Arbeit, Verzicht und Hingabe. Und so stehen Gutshäuser für ein Lebensgefühl der Nachhaltigkeit, nicht nur im ökologischen Sinne, sondern auch im Sinne von Bewahren, von Traditionen oder dem Erschaffenem.

Mit diesem EU-Projekt möchten wir Sie als Gäste zu den Orten und Menschen schicken, die wir im Laufe der Zeit aufgespürt haben. Folgen Sie uns auf dieser Reise und werfen Sie mit uns einen Blick hinter die Kulissen. Wie leben die Besitzer der Baltic Manors? Erfahren Sie, wie sehr diese Häuser den südlichen Ostseeraum Einen: Nicht nur aufgrund der bedeutsamen Familien, den bedeutsamen Architekten, die sie gebaut haben, den großen Gärtnern, die sie gestaltet haben, sondern vor allem durch die Magie, mit der sie uns alle auf ewig in ihren Bann ziehen. Nach dem Motto: „Old places, new life“ möchten wir Sie auf diese spannende Episode mitnehmen und Ihnen das Erwachen des Hinterlands aufzeigen – und wer weiß, vielleicht entdecken Sie dabei ja euren eigenen Old Place, den Sie mit neuem Leben füllen möchten. Sie wären nicht die Ersten.

Lesen Sie mehr von Annika auf ihrem eigenen Blog.

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